Montag, 18. Juli 2016

Baton Rouge, Louisiana

Ein paar Fakten:
Hauptstadt des Bundesstaats Lousiana, am Ostufer des Mississippi
ca. 230.000 Einwohner, 17 Meter über dem Meeresspiegel
Gegründet 1699, besiedelt 1719, aus dem Französischen für „Roter Stock“
Religion: vor allem Baptisten und Methodisten, dann Katholiken
Größte Universität: Louisiana State University, meine Alma Mater. Amerikaner denken dabei an das Football Team LSU Tigers. Ein lebender Tiger, Mike, lebt als Maskottchen auf dem Campus und wird bei Heimspielen aufs Spielfeld gefahren.
Von Spanish Town und anderen alten Vierteln abgesehen, ist die Infrastruktur ganz aufs Auto ausgerichtet. Die Autobahnen I-10 und I-12 führen mitten durch die typische zersiedelte amerikanische Stadt.


Vor 26 Jahren, im Herbst 1990, kam ich auf meiner Greyhound-Reise durch die USA auch nach Baton Rouge. Ich blieb ein paar Stunden, schlug mit Mühe die Zeit tot. Damals war nämlich im Stadtzentrum fast nix, nur das Louisiana State Capitol aus den 30er-Jahren, ein Wolkenkratzerchen (137 Meter) im Art-Deco-Stil, irgendwo zwischen Völkerschlachtdenkmal und dem Warschauer Palac Kultury. Der Bau des neuen Capitol Building war die Idee des legendären Gouverneurs (1928-1932) und späteren Senators Huey P. Long, eine Art populistischer Südstaaten-Kennedy, der 1935 in seinem Capitol erschossen wurde. Um ihn geht es in dem wunderbaren Roman All the King’s Men von Robert Penn Warren, deutsch Das Spiel der Macht, auch als Film mit Sean Penn von 2006.

Von der Aussichtsplattform auf dem Dach blickte ich auf die menschenleere Innenstadt und sah auf dem Mississippi in Ufernähe Baumstämme treiben. Als ich 1995 nach Baton Rouge zog, war das Flussufer inzwischen zur Promenade (Riverwalk) ausgebaut worden.
Ich lebte vier Jahre lang in der Stadt, drei davon in einem charmanten Holzhäuschen  in einem Viertel, das Freunde wegen der Straßennamen die „Philosophy Neighborhood“ nannten. Es lag gleich gegenüber des verwunschenen Garden Districts, wo ich an warmen Nächten spazieren ging. Es war eine schöne Zeit, in der ich viel erlebt, geliebt, gelernt habe, nur dass in einem Sommer hinter meinem Haus jemand angeschossen und ein Jahr später, am Abend vor der Gerichtsverhandlung, getötet wurde. Ansonsten war ich mit Franzosen, Künstlern, Schriftstellern befreundet und hatte einen sehr zuverlässigen persischen Automechaniker, Mark.
Mein Leben spielte sich vor allem im südlichen Teil der Stadt ab, in der Gegend um die Uni, mit luxuriösen Häusern für die Professoren, einfacheren Vierteln für junge Familien und einer Partystadt aus doppelstöckigen Mietshäusern für die Undergraduates (Tiger Town). Wir fuhren sonnabends ins Stadtzentrum zum kargen Wochenmarkt, wo die meist schwarzen Bauern aus der Umgebung Mustard oder Collard Greens und Tomaten verkauften. Wir gingen in Bars und Klubs, trafen uns zu Partys und wöchentliche Tafelrunden. Ich studierte französische Literatur und Creative Writing, lernte louisianische Tänze, Essen und Kultur, genoss das subtropische Klima. Kurzzeitig wollten wir ein leerstehendes Gebäude zu einem Kunstzentrum aufbauen. Heute steht an der Stelle das schicke Shaw-Center mit Museum, Theater und Dachrestaurant Tsunami fast direkt am Mississippi.

Vor allem in den ersten Jahren fuhren wir einmal die Woche zu Tabby’s Blues Box am North Boulevard. Der Besitzer, der schwarze Bluesmusiker Tabby Thomas spielte den Blues, manchmal mit Gästen, dann saß er da und hörte zu. Die Besucher waren Schwarze, immer dieselben, und eine wechselnde Handvoll College-Kids. Alles war sehr schlicht, das Bier war billig und die Musik toll, Swamp-Blues, wie ich später erfuhr. Der Klub war am North Boulevard, inmitten vieler leerer Grundstücke. Auch das Haus nebenan fehlte, und auf der Fläche gegenüber parkten wir, und immer stand dort jemand, der auf die Autos und die heimkehrenden Gäste aufpasste. Im Jahr 2000 zog die Blues Box in die Innenstadt und blieb dort bis zur Schließung 2004. Tabby Thomas hatte auch eine Radiosendung am Sonntagmorgen. Er starb 2014.
Tabby’s Blues Box befand sich am Anfang einer anderen Welt, die man nur am Rande registrierte, wenn man zum Flughafen fuhr oder irgendwie durch eines der armen, schwarzen Viertel kam. Dort im Norden der Stadt befinden sich die Ölraffinerien, die mit den Flammen aus den Schornsteinen und dem Gestank, wie sie in Bitterfeld gleich nach der Wende geschlossen wurden. Der „Petrochemical Corridor“ am Mississippi von Baton Rouge nach New Orleans heißt im Volksmund Cancer Alley. Das ist sarkastisch, aber wahr. Meine Freundin Esra Özdenerol promovierte mit einer Arbeit in Geografie, in der sie mit Hilfe von modernen Verfahren Krebsstatistiken räumlich auswertete (A Spatial Inquiry of Infant Low Birth Weight and Cancer Mortality in East Baton Rouge Parish, Louisiana), mit einem erschreckenden und äußerst brisanten Ergebnis: In der Nähe der Chemiebetriebe, dort wo die armen Schwarzen wohnen, sind die Krebsraten um ein Vielfaches höher als anderswo.
Baton Rouge liegt nur etwa 150 Kilometer nordwestlich von New Orleans, und trotz gleicher Flora und Fauna ähneln sich die Städte nicht. Baton Rouge ist nicht kreolisch, Cajun oder katholisch geprägt wie der Rest Südlouisianas, sondern eher ein Ausläufer des Bible Belt, eine All-American-City mit etwas schärferem Essen und riesigen Kakerlaken. 

Es ist eine Industriestadt, die zur Staatshauptstadt wurde, mit einer Flagship-University, die trotz der einschneidenden und verheerenden Bush- und Bobby-Jindal-Jahre dominiert. Nach Hurrikan Katrina war es Hauptzufluchtsort, als sich die Bevölkerung kurzzeitig verdoppelte und die Baton Rouger über die schrecklichen Fahrer aus New Orleans klagten. Ein Teil der Bevölkerung wollte sich letztes Jahr durch eine eigene Stadtgründung (St. George) vom ärmeren Teil der Stadt lossagen (hier).
In Baton Rouge ist vor knapp zwei Wochen Alton Sterling erschossen worden (und ich glaube, wir lebten beide zwar in derselben, aber nicht in der gleichen Stadt). Es ist die Stadt, in der  die Polizei brutal gegen Protestierende vorging und doch von einer einzelnen Iesha Evans  in den Bann geschlagen wurde, wie auf dem viel kommentierten Foto von Jonathan Bachmann zu sehen (hier). Und es ist die Stadt, in der gestern drei Polizisten erschossen wurden, darunter Montrell Jackson, der in einem Tweet vor 10 Tagen darüber schrieb, wie schwer es ist, Polizist zu sein, aber auch, vor allem privat, schwarz zu sein, der über die Müdigkeit, die Schwere schrieb, die er empfand und zu Liebe aufrief und gegen Hass (hier). Sein winziger Sohn wird ohne ihn aufwachsen. 

Ich bin nur von fern betroffen, aber auch ich finde es ermüdend, zehrend, unerträglich. Vor ein paar Tagen hieß es in einem Artikel, die USA seien auf der Prämisse begründet worden, dass bestimmte Leben nicht so wichtig, also verzichtbar sind. Ich glaube, da ist etwas dran. Es ist bis heute unterschwellig vorhanden. Obwohl einer im Weißen Haus regiert, lebt man als schwarzer Mann in den USA immer noch mordsgefährlich. Die Tatsache, dass Obama schwarz ist und noch dazu klug, warmherzig und witzig, hat, so scheint es mir, dazu beigetragen, dass der Rassismus neue Blüten treibt, dass politische Differenzen in der Regierung in vorher unbekanntem Maße und auf radikale und respektlose Weise ausgetragen werden. Unausgesprochen (abgesehen von den Anschuldigen wegen seines Geburtsorts und dass er angeblich Muslim wäre) ist das fast immer Teil der Opposition gegen ihn. Vielleicht ein letztes, gewaltiges Aufbäumen der alten Klasse, die weiß, dass sie nicht mehr unumschränkt das Sagen hat.
In den letzten zwei Jahren sind viele Fälle bekannt geworden, in denen Afroamerikaner durch Polizeigewalt ums Leben kamen. Dass es trotz der Öffentlichkeit und trotz der Proteste jetzt wieder geschehen ist, mag auch damit zu tun haben, dass sowohl Alton Sterling als auch Philandro Castile, der zwei Tage später in St. Paul erschossen wurde, Waffen trugen. Sie haben ihnen nichts genützt; sie haben ihnen auf fatale Weise geschadet. In einem Radiobericht habe ich etwas gehört, was wir hier in Europa intuitiv wissen und verstehen: Statistisch gesehen, sterben in Bundesstaaten mit einer ausgeprägten Waffenkultur mehr Mensch durch Schusswaffen als in anderen Staaten, wo die Gesetze strenger sind. Natürlich ist das so. Aber kann man das den alten weißen Männern in der überaus mächtigen Waffenlobbyorganisation (National Rifle Association) irgendwie vermitteln? Solange auf Facebook hämische Kommentare auftauchen, mit dem Tenor „Tja, vielleicht einfach mal an die Gesetze halten“, glaube ich nicht so recht daran. 
Ich weiß nicht wie, aber bitte hört auf mit dem Töten. Denkt daran, dass alle Menschen Träume und Wünsche haben und Menschen, die sie lieben. Denkt daran, dass jedes Leben schützenswert ist.  
Hier noch ein interessanter Artikel von einem Afroamerikaner, der in Baton Rouge aufgewachsen ist und dort lebt und lehrt.

Dienstag, 15. März 2016

Spotlight

Um die Oscars hatte es viel Aufregung gegeben, unter dem Motto #OscarsSoWhite, und der Moderator Chris Rock hatte sich ordentlich darüber lustig gemacht. Zum Teil war es das berühmte im Halse steckenbleibende Lachen, so als er sagte, in den sechziger Jahren hätten sich die Schwarzen nicht beschwert, weil sie andere Probleme hatten (Lynchings usw.), oder dass in der Erinnerungskategorie für Verstorbene dieses Mal an die Schwarzen erinnert würde, die auf dem Weg ins Kino von Polizisten erschossen wurden.
Neben all den weißen Schauspielern und Künstlern (wobei Chris Rock auch thematisierte, warum die Preisvergabe überhaupt in Männer und Frauen unterteilt ist) waren auch weiße Filme nominiert, vor allem „The Revenant“ mit Leonardo di Caprio, wohl ein ziemlich brutaler Kracher. Aber gewonnen hat dann ein anderer Film, der mich schon im Vorfeld interessiert hatte, Spotlight, eine Hollywood-Produktion mit Anspruch und einem ernsten Thema. Spotlight heißt ein Spezialteam der Tageszeitung Boston Globe, das investigative Reportagen verantwortet und dafür monatelang recherchieren darf. (Diese Abteilung gibt es heute noch, mit 7 Mitarbeitern, darunter auch Michael Rezendes, der im Film von Mark Ruffalo gespielt wird.)
Der Film zeigt, wie das Spotlight-Team gerade nach einem neuen Thema sucht, und von dem neuen Chefredakteur, Marty Baron, gleich an seinem ersten Tag auf einen Fall angesetzt wird, der immer mal wieder im Lokalteil auftauchte. Gerade am Wochenende zuvor hatte eine Kolumne über Missbrauchsvorwürfe gegen einen Priester mit den Worten geendet: The truth may never be known. (Die Wahrheit wird wohl nie herauskommen.)
Warum eigentlich, fragte sich Baron, eine Frage, die sich die Einheimischen nie gestellt hatten. Wie sich zeigte, weil die katholische Kirche in Boston so allgegenwärtig und allmächtig ist, dass sie selbst Gerichtsakten verschwinden lassen und Missbrauchsfälle in außergerichtlichen Vergleichen abgelten kann. Der Film zeigt die wochenlange Recherche der Journalisten, das Fordern nach Akteneinsicht, das Herumtelefonieren, Leute zum Reden bringen, die nicht reden wollen, Akten und Jahrbücher durchforsten, Notizen machen, nachdenken, zu wenig essen, zu wenig schlafen, den emotionalen Stress. Das alles wird – wie immer wieder betont wird – treffend und nicht sensationell herübergebracht und ist trotzdem spannend und aufregend. Für ihre Recherche wiederum hatten sich die Filmemacher und Schauspieler mit den Reportern getroffen und  einiges abgeguckt. Darüber berichten sie in zwei Interviews auf NPR (in On the Media und Fresh Air) und in verschiedenen Talkshows.
Gleich bei Erscheinen des ersten Artikels einer ganzen Serie, das zeigt der Film, meldeten sich hunderte Missbrauchsopfer, die zum ersten Mal über ihre Erfahrung reden konnten. Und nicht nur das. Die Serie bekam einen Pulitzer-Preis und löste weltweite Untersuchungen aus. In Deutschland allerdings erst 2010 mit dem Brief des Rektors des Berliner Canisius-Kollegs, und wie es scheint, ist da noch gar nicht so sehr viel geschehen.
Was der Film überaus deutlich klar macht, ist die Bedeutung von Zeitungen, ihre Existenzberechtigung, die auch der Chefredakteur anspricht. Die Frage ist doch, was kann die Presse leisten, was digitale Medien nicht so gut können? Wie kann sich die Presse behaupten?
Genau so, davon bin ich überzeugt.
Indem sie Themen thematisiert, die ihre Leser berühren und ihnen am Herzen liegen. Das kann investigativer Journalismus. Und so ist der Boston Globe bis heute eine wichtige überregionale Zeitung, und das Spotlight-Team recherchiert weiter, auch wenn viele Mitarbeiter entlassen wurden. Wie die Washington Post (gegründet 1877) wurde der Boston Globe (gegründet 1872) 2013 an private Unternehmer verkauft, was sich auf die Unternehmungspolitik auswirkte und im Falle der Washington Post, die Jeff Bezos gehört, auch immer mehr in politisch tendenziös wirkender Berichterstattung äußert.
Die New Orleans Times-Picayune (gegründet 1837), die ich lange kannte und liebte, war auch für ihre Rolle nach Hurrikan Katrina Pulitzer-Prize-gekrönt und sorgte später mit einer Serie über das Gefängnissystem in Louisiana für Aufsehen. Darin konnte sie zeigen, dass aufgrund von Korruption und Geschäftsinteressen die (privat betriebenen) Gefängnisse in Louisiana immer gut belegt sind und  der kleine Bundesstaat die größte Gefängnispopulation der USA und damit der Welt hat.
Obwohl die Times-Picayune einen sehr treuen Abonnentenstamm hatte, ließen die neuen Besitzer sie ab 2012 nur noch drei Mal die Woche drucken und leiteten damit den bis heute andauernden Untergang des Traditionsblatts ein. Dafür sprang der Advocate aus Baton Rouge mit einer New-Orleans-Ausgabe in die Bresche und wird immer beliebter. Und zeigt, dass es auch anders geht. (Ich hatte 2012 hier im Blog immer wieder berichtet.)
Fazit: Guter, fundierter Journalismus von erfahrenen und lokal verwurzelten Reportern und Reporterinnen macht sich bezahlt! Spotlight: Ansehen! Allerdings: Es spielen nur Weiße mit.