Montag, 5. August 2013

Briefe: Kurztrip entlang der Memory Lane


Es ist Sommer, Zeit zum Ausmisten. Ich habe mir eine Tüte mit alten Briefen vorgenommen: Ach, ich sehe sie kurz durch, dachte ich mir, schmeiße die Hälfte weg, und dann suche ich ein schönes Plätzchen dafür. Es kam anders.
Es handelt sich vor allem um die Zeit von 1992 bis 1993, als ich ein Jahr in Ohio war, das ich jetzt fast eine ganze sehr bewegende Woche lang lesend wieder erlebt habe. Zunächst einmal sind da die Handschriften, die ich nicht mehr zu lesen gewöhnt bin, die auf sorgfältig ausgewähltem und manchmal bewusst improvisiertem Untergrund (Brief- oder Schreibpapier, Notizzettel, verschiedene Kartenkonstellationen, Kalenderblätter usw.) ein kleines gestaltetes Kunstwerk erschaffen. Jeder einzelne Brief! Der Umschlag gehört natürlich dazu, und wo er fehlt, ist der Brief irgendwie nackt.
Dann die Erzählungen, meistens ausführlich mit richtigen Spannungsbögen: Alltagseindrücke, Auswanderungspläne, Liebesgeschichten, Liebesbeteuerungen und viele Andeutungen zur damals aufkommenden Ausländerfeindlichkeit in D. und den beruflichen und anderen Umbrüchen und Unsicherheiten im Osten der Republik. Auch Karten von amerikanischen Freunden mit Reise- und Lageberichten. Vor allem aus den Briefen von Zuhause steigt viel Wärme auf, nebelt mich ein, berührt mich, wie es enge Freundschaften und Familienbande tun. Zwischen den Zeilen lese ich, was ich damals geschrieben, gefühlt und erlebt habe. Dass dieser persönliche kleine Roman für mich entstehen konnte, hat mit dem Genre/Medium Brief zu tun. Aber auch damit, dass ich weg war und ein Umfeld zurückließ, das mir solche Briefe schrieb.
Das Ritual, dieser Moment der Einkehr und des ganz bei dem Anderen Seins, der es war, wenn man sich eine Kerze anzündete, sich hinsetzte und ein Brief schrieb, das erlebe ich heute nicht mehr, auch wenn ich mal eine Brief schreibe. Stattdessen ist viel Unruhe in mir, die auch diese Aufgabe schnell hinter mich bringen möchte. Vielleicht ist uns ein solches Geschenk an Zeit, Gedanken und Gefühl heutzutage zu groß geworden.
Quälend war es, die Briefe von meinem Damaligen zu lesen, mit dem ich nie hätte zusammen sein sollen; was ein anderer Ehemaliger mir in seinem abgegriffenen Brief mitteilen wollte, verstand ich dieses Mal sofort. Den einen Brief von dem Einen habe ich lange hinausgezögert. Zu Recht. Manche Dinge bringen mich auch nach Jahrzehnten noch zum Schmelzen.
1992 war für mich das Jahr, als ich auf kastenförmigen grauen Apple-Computern am Antioch College mit E-Mail anfing. Mit Freude. Ich liebe E-Mail. Und doch werde ich die E-Mails von verflossenen Lieben und Freunden später nicht in einer Tüte oder einem Karton finden und neugierig durchstöbern. Privates und Berufliches vermischt und verwischt sich per E-Mail. Fühlen wir auch anders? Zurückdrehen kann und will ich die Zeit nicht, aber im Rückblick sehe ich, was mir heute vielleicht fehlt. Bald werde ich meiner besten (Brief-)Freundin aus jener Zeit, jetzt in Wales, einen ausführlichen, jetzt wieder ersten, Brief schreiben.

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