Sonntag, 24. Februar 2013

Chicago



Ende Januar wurde in Chicago die 15-jährige Hadiya Pendleton erschossen. Einfach so auf der Straße geriet sie, gemeinsam mit anderen, vermutlich in die Schusslinie einer Fehde zwischen konkurrierenden Gangs. Schlagzeilen machte ihr Tod nicht nur, weil Hadiya eine Bestschülerin mit vielen Träumen und Ambitionen war. Sie war auch wenige Tage zuvor mit der marching band (Marschorchester) ihrer Schule bei der Amtseinführung von Präsident Obama aufgetreten und stammte aus der Heimatstadt der Obamas, aus Chicago (hier). Michelle Obama flog zu ihrer Beerdigung. Als Präsident Obama Mitte Februar in der Hyde Park Career Academy im Süden von Chicago unter anderem über Hadiya Pendleton und über seine Bemühungen zur Verschärfung der Waffengesetze sprach, saß unweit von ihm die 14-jährige Schwester von Janay McFarlane, einer 18-jährigen Mutter, die am selben Abend „aus Versehen“ erschossen wurde (hier). Allein im Januar sind in Chicago mehr als 40 Menschen durch Schusswaffen getötet worden.
So ist es auch kein Wunder, dass im Radio plötzlich ständig über die Gewalt in Chicago gesprochen wird. Zum Beispiel habe ich in einem Beitrag über ein Programm gehört, das einkommensschwachen Familien hilft, in bessere Viertel zu ziehen, um damit die Zukunftschancen für die Kinder zu verbessern -- und sehr oft ist das erfolgreich. In der Sendung This American Life, die in Chicago produziert wird, läuft derzeit eine interessante zweiteilige Serie über die Harper High School in einem armen Teil der South Side of Chicago. Dort werden viele Schüler Opfer von Waffengewalt; ein Schüler hat aus Versehen seinen kleinen Bruder erschossen. Es wird berichtet, dass man, ob man es will oder nicht, einer Gang angehört, einfach abhängig davon, wo man wohnt. Dass man nicht allein von der Schule nach Hause gehen kann, weil es zu gefährlich ist, aber auch nicht zu zweit, sondern am besten mit zwei Mädchen ein paar Meter hinter einem. Dass ein Schüler sich deshalb, abgesehen von der Schule, nicht mehr aus dem Haus traut. Wie sich die engagierte Direktorin und die Sozialarbeiterinnen an der Schule um Normalität bemühen. Dass sogar ein Polizist einsieht, dass man gar nicht umhin kommt, in einer Gang Mitglied zu sein. In diesen Tagen läuft der zweite Teil.
Auch Michelle Obama betont gern, dass sie von der South Side kommt, „the real side of Chicago“ (der wirklichen Seite von Chicago). Allerdings wuchs sie in zwar einfachen, aber doch in Verhältnissen der Mittelklasse auf. Vor vielen Jahren hatte ich mal einen jungen Studenten von der South Side, Kevin, der in Ohio bei mir Deutsch lernte. Einmal, als ich vor Weihnachten zu einer Konferenz nach Chicago fuhr, habe ich ihn im Auto mitgenommen. Kevin wollte nicht nach Hause gefahren, sondern an einer Straßenecke abgesetzt werden, vielleicht weil er nicht mit mir gesehen werden wollte? Weil ich sein Zuhause und Umfeld nicht sehen sollte? In so einem ausgedehnten, armen, afroamerikanischen Viertel war ich noch nie gewesen, in New Orleans nicht und selbst in St. Louis nicht.
Forbes-Magazine hat gerade wieder eine Rangliste der schrecklichsten Städte der USA veröffentlicht. Auf Platz 1 steht Detroit, Michigan; Chicago ist auf Platz 4, auch wegen der langen Arbeitswege, Wetter und anderen Parametern. Dann gibt es noch weitere Listen: wo jetzt alle hinziehen, die gefährlichsten Städte und die besten Städte für Business und Karriere. New Orleans taucht in keiner dieser Listen auf.
Dafür hat es den traurigen Ruhm immer regelmäßig und konstant als die Stadt mit der meisten Gewalt die Statistiken anzuführen (hier). Laut Centers for Disease Control (Zentren für Krankheitsbekämpfung) beträgt die Rate von Toden durch Schusswaffen 69,1 auf 100.000 Menschen im Vergleich zu 41,4 in Detroit. Bei Selbstmorden mit Schusswaffen taucht New Orleans nicht unter den ersten auf (es führt Las Vegas), aber bei Tötungsverbrechen sind es 62,1 auf 100.000 Menschen, dahinter wieder abgeschlagen Detroit mit 35,9. Chicago erscheint in diesen Statistiken nicht unter den ersten Plätzen.
Als ich im Herbst mit einer Kreolin sprach, die im Besucherzentrum der Kirche Our Lady of St. Guadelupe arbeitet, sagte sie mir, dass New Orleans die beste Stadt sei. Trotz der Gewalt? Die Gewalt betreffe nur Drogen und Schwarz auf Schwarz, mit uns habe das nichts zu tun. Als sie nach Katrina einige Zeit in Las Vegas gelebt habe, habe sie mehr Angst gehabt.
Insgesamt stehen die USA bei den Toden durch Schusswaffen auf Platz 9 weltweit, bei den (demokratischen) Industrieländern ganz vorn (hier). 2012 nahm die Gewalt in Chicago und Detroit rapide zu, in New York und Washington, D.C. hingegen ab (hier). Dabei war DC bis vor einigen Jahren auch noch für seine Gewalt berüchtigt.
Der New Yorker-Autor Malcolm Gladwell vertritt übrigens in seinem Buch Outliers (Überflieger) die These, dass Fehden und Ehrenmorde besonders in Kulturen verankert sind, die ehemals Hirten waren und Vieh zu bewachen und verteidigen hatten, zum Beispiel aber nicht unter Ackerbauern. Doch auch zwischen den Gangs in Chicago und anderswo wird aus Rache und verletzter Ehre und wegen schiefen Blicken gemordet, und manche der jungen Menschen dort denken, dass sie ohnehin nicht alt werden und machen sich also keine Gedanken und auch keine Hoffnungen über die Zukunft. Wie erklären Sie das, Herr Gladwell? Und vor allem: Was kann man dagegen tun?

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