Montag, 31. Dezember 2012

Beasts of the Southern Wild


In den letzten arbeitswütigen Tagen habe ich für das Museum of Modern Art übersetzt, dessen Sammlung auch virtuell besucht werden kann, unter diesem Link. Auch aus (oder über) Louisiana finden sich dort Werke, vor allem auch Fotografien aus New Orleans von Henri Cartier-Bresson, Lee Friedlander und Walker Evans und natürlich von E.J.Bellocq, der für seine Fotos aus Storyville Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt ist. Etwas Malerei ist auch dabei und – Film, so Robert Flahertys (1884-1955) Dokudrama-Klassiker Louisiana Story von 1948. In diesem Schwarzweißfilm zeigt die Kamera die wilde und exotische, damals noch unberührte, Landschaft Louisianas und die wilden und exotischen Cajuns, die sie bewohnen. Aus ihrer Armut und ihrem autarken Leben werden diese durch die Ankunft der Ölindustrie herausgerissen, die Erkundungsbohrungen durchführt. Natürlich sind die Ölarbeiter alle freundlich und helfen den naiven Cajuns aus ihrem Elend (der Film wurde von Standard Oil gesponsort). Zu sehen ist die aufregende Beziehung zwischen moderner Technik und Fortschritt und dem Naturreichtum der Region, aber es gibt auch einen Moment der Wehmut, denn es ist auch ein Abschied und ein Eintritt in eine neue Welt.
65 Jahre später ist das alles längst Alltag. Vor kurzem hat die BP-Ölkatastrophe weite Teile des Golfs von Mexiko verseucht und die Folgen sind immer noch spürbar. Abgesehen davon verliert Louisiana ständig an Boden, mit jedem Hurrikan noch viel mehr, unter anderem weil die Explorationskanäle der Ölfirmen die Marschen zerstören und das eindringende Salzwasser die rettende Natur (Pflanzen und auch Tiere) auffrisst.
Insofern ist der Film Beasts of the Southern Wild, den Ihr auch alle sehen müsst, eine moderne Fortsetzung der Louisiana Story, denn hier geht es genau darum, dass die Menschen ihre Heimat an das Wasser verlieren und aber partout nicht gehen wollen.. Auch vor Ort mit Laiendarstellern gedreht und ebenso ein gewissermaßen politischer Film, mit einer Aussage, der sich der Zuschauer nicht entziehen kann. Vor allem aber ist ein großer, aufwühlender Film mit packenden Bildern, in dem ein kleines Mädchen namens Hushpuppy ihr Leben in den Kontext ihres Landes, das sie vergessen hat, in den globalen Kontext mit Erderwärmung und aber auch in die Menschheitsgeschichte einordnet.
Das ist für einen Debütfilm (von Benh Zeitlin – sollte man sich merken) ein starkes Stück und gelingt irgendwie auch. Der Film ist experimentell und independent, ohne zynisch oder sarkastisch zu sein, sondern leidenschaftlich und ja, vielleicht auch pathetisch. Das Bild von Louisiana ist nicht authentisch: nein, auch dort wohnen die Menschen nicht in Verschlägen, die nach einem Tobsuchtanfall genauso aussehen wie vorher usw. Aber er baut auch nicht auf Klischees, sondern vielmehr auf kulturelle Praktiken, die man für den hiesigen Zuschauer vielleicht erklären müsste. 
Mein Begleiter, der mich sogar vor langen Jahren in Louisiana besucht hat, empfand den Film zunächst wie eine Glorifizierung der Unterschicht, auch weil in den Untertiteln ein Übersetzungsfehler war (es ging nicht darum, dass man dort mehr frei hat und ergo weniger arbeitet als irgendwo auf der Welt, sondern darum, dass es mehr Feste gibt -- im Hintergrund war ein glanzloser Mardi-Gras-Umzug zu sehen). Die Krebse und Krabben werden natürlich vor dem Verzehr gekocht, in großen Töpfen mit Kartoffeln und Gemüsen und scharfen Gewürzen, und dann auf mit Zeitungen bedeckten Tischen aufgehäuft, man isst mit der Hand und das ist nicht fein. Die ganz Harten saugen auch den Kopf aus. Nach meinem ersten Crawfish boil träumte ich, dass mir Krebse innerhalb meiner Jeans an den Beinen entlangliefen.
Der Schauplatz The Bathtub (Die Badewanne) ist ein erfundener Ort, doch nach Katrina wurde auch New Orleans als „Metropole in Form einer Badewanne, ohne Stöpsel“ bezeichnet. Inspiriert wurde die Geschichte aber auch von der kleinen Insel Isle de Jean Charles in Terrebonne Parish, einem Indianerreservat, das mit jedem Jahr mehr im Wasser versinkt und wo die Einwohner sich trotzdem nicht vertreiben lassen. Hier ein Ausschnitt aus einem aktuellen Dokumentarfilm darüber, Last Stand on the Island
Biester oder Bestien, wie im Titel genannt, gibt es verschiedene. Zunächst wären da die Kreaturen, die immer laut schnaufend durch die Träume der kleinen Hauptfigur Hushpuppy ziehen; ich hielt sie den ganzen Film lang für überdimensionierte Wildschweineber, aber es sollten wohl doch Auerochsen sein. Dann wären da die Tiere, mit und von denen die Menschen dort leben und dann sind sie aber auch selbst irgendwie Tiere, zumindest in den Augen der Behörden, die sie retten wollen. Ein Hinweis darauf ist auch die eine Szene, in der die kleine Hushpuppy versucht, beim Essen eine Krabbe zu zerteilen, und ihr Vater und schließlich auch die anderen Dorfbewohner sie anfeuern, indem sie ihr "Beast it" zubrüllen, (also in etwa: Mach's mit roher Gewalt).
Freunde meinten zu mir, es sei ein Film über den Freiheitsdrang und dem Wunsch nach Autarkie. Für mich ist es aber auch gewissermaßen ein Heimatfilm, der die eigene bedrohte Heimat in einen größeren Kontext stellt und der die Kraft von gewachsenen Beziehungen und Gemeinschaften besingt. Wegen der Bilder sollte man den Film auf einer großen Leinwand sehen und sehr lange läuft er wohl nicht mehr. Für die beiden Hauptdarsteller, die auch in Sundance und in Cannes dabei waren, ist jetzt wieder Normalität eingekehrt. Die winzige Quvenzhané Wallis ist eine kleine Glamourdame geworden und ihr Filmvater Dwight Henry betreibt eine gut gehende Bäckerei in New Orleans. Hier und hier Interviews mit ihnen. 
Im Gambit Weekly wurde der Film zu einem der besten von 2012 gekürt (und für mich ist er das auch). Dort heißt es: New Orleans filmmaker Benh Zeitlin and his ragtag crew made history with a magical and utterly original work of Louisiana art.

Happy New Year allerseits!

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