Dienstag, 10. Juli 2012

Moira Crone: The Not Yet

Vor allem seit Hurrikan Katrina gibt es eine wahre Flut an Erinnerungsberichten, Essays und literarischen Verarbeitungen (so Tom Piazza: Why New Orleans Matters als eines der ersten, dann kam Chris Rose: 1 Dead in Attic, auch Dave Eggers’ Zeitoun, das ich hier schon besprochen habe). Schon immer gab es auch neue historische Bücher über New Orleans, selten aber ein Blick in die Zukunft. Mir fällt da eigentlich nur ein Satz von Ex-Bürgermeister Ray Nagin ein, der 2006 meinte: „This city will be chocolate at the end of the day“ (Letztendlich wird unsere Stadt aus Schokolade sein), eine Aussage, die nun wirklich nichts Neues erzählt und ihm von seinen vielen weißen Wählern einigen Ärger einbrachte.
Die New Orleanser Schriftstellerin Moira Crone hat in ihrem Roman The Not Yet eine Zukunftsvision vorgelegt, die zeigt, wie es auch kommen könnte, eine ernüchternde Dystopie, in der sie auch ihr Katrina-Trauma verarbeitet:
Es ist die Zeit zwischen dem Jahr 2111 und 2121. Wo New Orleans einmal war, liegt ein riesiges Meer, in dem die Stadt in Teilen erhalten ist. Die Menschen leben nur noch in den oberen Stockwerken ihrer Häuser, und es ist liebenswert-bemitleidenswürdig, wie sie daran festhalten. So sind sie, die New Orleanser, und dabei ist ihre Stadt doch schon lange nicht mehr so wie vorher.
Erzählt wird aus der Sicht der jugendlichen Hauptfigur, dem Findelkind Malcolm, ganz von der Warte seiner Zeit aus und das ist für uns heutige Leser auf den ersten fünfzig Seiten recht verwirrend. Das 22. Jahrhundert in New Orleans ist nämlich eine bizarre Welt, die sich nicht nur physisch, als Umwelt verändert hat, sondern – und das ist fast noch entscheidender – auch politisch, und das hängt mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zusammen. Die United States of America (USA) sind durch eine United Authority ersetzt worden, die alles kontrolliert, auch das biologische Über/Leben und letztlich alle Aspekte des Lebens.
Überlebens-/lebensverlängernde Technologien haben sich durchgesetzt und eine Art biologische Elite geschaffen – die Heirs (Erben). Das ist eine Kaste von Menschen, die sozusagen das ewige Leben für sich entdeckt haben, was bedeutet, dass sie sich eine äußere Schutzhülle zulegen müssen, die sich mit der Mode wandelt und regelmäßig erneuert werden muss - ich hatte dabei Außerirdische aus Science-Fiction-Filmen vor Augen. Diese Schutzhülle brauchen sie zum Schutz vor UV-Strahlen und anderen schädlichen Dingen; essen können sie auch nicht ordentlich, sondern sich nur mit künstlicher Nahrung, Brosia, ernähren, die sich im Mund gleich auflöst. Natürlich muss auch die Fortpflanzung reguliert werden, damit es keine Überbevölkerung gibt. Kein Nicht-Heir darf sie berühren. Dann gibt es da noch die Anderen, die Nats (von natural), Altereds (Veränderte), Yeareds (Bejahrte) und die Not Yets (Not Yet treated – noch nicht behandelt).
Malcolm ist ein Not Yet und trägt als Zeichen dafür einen besonderen Halsreifen. Von Kind an arbeitet er als Schauspieler, um in seinem Trust (Fonds) genügend Geld für die teure Umwandlung zum Heir anzusparen. Doch er erfährt, dass sein Trust leer ist und begibt sich auf eine abenteuerliche Heimreise, bei der er angeschossen und verhaftet wird. Der Roman wird in vielen Rückblenden erzählt und in einer solchen wird Malcolm für seine Umwandlung in einer Art Sanatorium „programmiert“ und schockartig gebildet und erzogen. Aber dort erlebt er auch zum ersten Mal eine magische Anziehung und das Verliebtsein zu Camille, die aus der Welt da draußen kommt, aus einer Enklave, und ganz natürlich und impulsiv ist, sich den Gesetzen der Heirs zu verweigern versucht, ein bisschen die schöne Wilde.
Ihre Rivalin-Feindin, die Wissenschaftlerin Lydia Greenmore, die für Malcolms Ausbildung verantwortlich ist, entlässt Camille, doch Malcolm wird ihr später wieder begegnen. Dr. Greenmore erforscht die Verfallserscheinungen bei den Heirs und nimmt Malcolm dafür als Vertrauten und Assistenten bei sich auf. Zwischen den beiden entwickelt sich eine innige Beziehung, die sich später auf wunderliche Weise erklärt. Kurzzeitig interessiert sich Dr. Greenmore auch für alte spirituelle Praktiken und Religion, doch Malcolm, der immer konform ist, bringt sie wieder auf den rechten Weg.
Malcolm wird Zeuge einer Inszenierung, die die Heirs in Verzücken versetzt: dem Tod einer Frau auf großer Bühne. Erst später wird ihm klar, dass sie alle dem tatsächlichen Sterben der Tochter eines der Mitarbeiter des Findelhauses beigewohnt haben, da die Familie das Geld brauchte. Und so versteht auch Malcolm langsam, wie die Gesellschaft wirklich funktioniert.
Immer wieder taucht Ariel auf, der sein großer Bruder sein will, da sie zusammen gefunden wurden. Anders als Malcolm stellt Ariel die Regeln in Frage und rebelliert dagegen. Selbst ihr Ziehvater Lazarus stellt sich schließlich gegen die Konventionen, doch Malcolm arbeitet weiter zielstrebig auf seine Umwandlung zu. Und doch ist er zwischen Camille und Dr. Greenmore und ihren verschiedenen Welten hin und her gerissen. Am Ende entscheidet er sich für Camille, doch wird er es schaffen, vor dem drohenden, vielleicht letzten Hurrikan zu ihr zu gelangen?
New Orleans existiert nur noch in einzelnen Bestandteilen, wie dem Sunken Quarter (dem versunkenen Viertel), also dem French Quarter, das wie in einem riesigen Goldfischglas erhalten und als touristische Attraktion konserviert ist. Das Findelhaus befindet sich auf der Audubon-Insel, vielleicht einer der kleinen Inseln im heutigen Audubon-Park. Dann gibt es noch die Outer Orleans Islands (Äußere Orleans-Inseln), Museum City (Museumsstadt) und vor allem Re-New Orleans, auch ein schönes Wortspiel mit der Reproduktion und der Wiedererneuerung. 
Um alle Details zu verstehen, müsste ich das Buch wohl noch einmal lesen (oder eben übersetzen, würde ich gern! Gebt Bescheid, wenn Ihr einen geneigten deutschsprachigen Verlag wisst). Nach dem etwas beschwerlichen Anfang wird es richtig spannend, wegen der kleinen Liebe zu Camille (ja, auch ich bin romantisch) und weil der Ausgangspunkt und die Initialzündung glasklar wird, nämlich Hurrikan Katrina.
Denn wie damals steht New Orleans unter Wasser und sinkt weiter. Präsident Bush ist einer der ersten, wenn schon nicht Klone, dann doch Heirs, und Katrina war nur der Anlass für die immer größere Verschärfung der sozialen Unterschiede und Gegensätze, die durch das Eingreifen des Menschen in die Natur eine Bedrohung für die Zukunft und das Überleben der Menschheit darstellt. (Das erinnert mich an ein Thema, das eine meiner Studentinnen kürzlich ansprach, nämlich, dass der verbreitete Einsatz der pränatalen Diagnostik dazu führen würde, dass es immer weniger Finanzierung, weil politischen, weil Wählerwillen, für die Förderung und Inklusion von Behinderten gäbe, denn das Zur-Welt-Bringen von behinderten Babies würde dann gesellschaftlich als persönlicher Eigensinn und Luxus angesehen.)
Schließlich ist das Buch auch eine Überspitzung und damit Kritik am bestehenden Gesundheitssystem der USA, so lese ich es, in dem sich bald nur noch Wenige die nötigen Behandlungen leisten können und damit eine eigene, privilegierte Kaste bilden.
Der Titel The Not Yet bedeutet Das Noch-Nicht, doch bald erfährt der Leser natürlich, dass Malcolm gemeint ist, also Der Noch-Nicht. Aber das Buch beschreibt eben auch eine Welt kurz vor der ganz großen Katastrophe, auch New Orleans, das bei Katrina ja immerhin überlebt hat, hier aber eine Katastrophe, die man vielleicht noch abwenden kann. Es ist eine amerikanische Schreckensvision der Zukunft, aber auch ein fesselnder Bildungsroman - Sozialkritik, Warnung, Nachruf in einem. Es ist Moira Crones Liebenserklärung an New Orleans.
Erschienen ist es bei UNO Press in New Orleans, siehe hier. Von dem Buch inspiriert haben internationale Künstler, u.a. aus Deutschland, Polen, den USA, Brasilien, Großbritannien und Portugal, tolle Grafiken angefertigt, siehe hier.

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