Samstag, 2. Juni 2012

Vom Fressen und von der Moral

Eine kürzlich veröffentlichte Studie befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Essen und moralischem Handeln. Assistant Professor Kendall Eskine von der Loyola University in New Orleans hat sie kürzlich zur Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Social Psychological and Personality Science eingereicht (hier). 
Für die Studie wurden den Probanden Fotos von Bio-Lebensmitteln oder von so genanntem „comfort food“ (Futter für die Seele, traditionelle Speisen) oder von „neutralen“ Lebensmitteln wie Reis und so weiter gezeigt. Dabei stellte sich heraus, dass diejenigen die vorher Bio-Lebensmittel betrachtet hatten, moralische Verfehlungen wesentlich stärker verurteilten  und auch weniger bereit waren, anderen zu helfen. Daraus schließt man, dass sich diese Menschen durch Bio-Lebensmittel in ihrer moralischen Identität bestätigt fühlen und ihr Wunsch nach altruistischem Handeln reduziert wird.  
Interessant finde ich, dass die Studie ausgerechnet in New Orleans und an der Loyola-Universität durchgeführt wurde, einer jesuitischen Hochschule in einer katholisch geprägten Stadt (die Süddeutsche nannte das Ergebnis der Studie treffend „moralischer Ablasshandel“). Loyola ist gleich neben der Tulane Universität an der St. Charles Avenue, direkt gegenüber dem Audubon Park. Sie (1912 gegründet) untersteht dem katholischen Jesuitenorden und hat heute fast 5000 Studenten aller Glaubensrichtungen. Trotz (oder wegen?) seiner katholischen Prägung hat New Orleans ja eine für die USA einmalige Esskultur, was die Menge, die Vielfalt, den Feingeschmack und die Zutaten betrifft. 
Unweit der Loyola University befindet sich der riesige Whole Foods Arabella Station an der Magazine Street, in dem Professor Eskine möglicherweise auch einkauft und sein Gewissen und seine Lust auf gutes Essen befriedigt? Whole Foods  (wörtlich in etwa „ganzheitliche Lebensmittel“) ist eine sehr teure, sehr verführerische Supermarktkette für Bio-Lebensmittel, die seit 1988 auch in New Orleans präsent ist; dort in der Arabella Station seit ca. 10 Jahren. Neben Biogemüse, Obst, Müsli usw. gibt es dort auch europäische Weine und Schokoladen, Kosmetik und fast alles, was das Herz begehrt. Meine Freundin Lil nennt den Laden „whole wallet“ (das ganze Portemonnaie), andere sagen „whole paycheck“ (der ganze Lohn), denn man geht dort schnell mit weniger Geld hinaus als geplant. Aber sollten all diese betuchten Kunden unmoralisch und egoistisch sein? 
Der Crescent City Farmer’s Market wird weniger besucht als Whole Foods, so habe ich es in Erinnerung, und das vielleicht nicht nur wegen der kurzen Öffnungszeiten. Er findet drei Mal wöchentlich an drei verschiedenen Orten in New Orleans statt, u.a. in Uptown, auf einem parkplatzähnlichen Gelände unweit von The Fly und Audubon Park und von Whole Foods. Farmer aus der Umgebung verkaufen dort direkt aus ihren LKWs und Lieferwagen, oft Afroamerikaner, und man sieht, dass sie nicht wohlhabend sind. Es gibt keinen Kaffee und keine Imbissstände, keine Musik, keine Schnörkel, nichts Verschönendes. Auf dem glühendheißen Platz verkaufen sie ihre Tomaten und Collard Greens, die eben oft nicht so knackig und perfekt aussehen wie in Whole Foods, denn – ich habe es selbst erlebt – die erbarmungslose Sonne und die noch erbarmungsloseren Schnecken, Insekten und was sonst noch so mitfrisst machen es fast unmöglich, in Südlouisiana Gartenbau zu betreiben. Auf dem Markt kommt man ins Gespräch, bekommt bodenständige Tipps zur Zubereitung und unterstützt nebenbei die lokale Landwirtschaft. Das ist nicht nur moralisch vergnüglich.
Übrigens wurde der Farmer's Market 1995 durch das Twomey Center For Peace Through Justice (Zentrum für Frieden durch Gerechtigkeit) der Loyola University ins Leben gerufen und das passt doch dann wieder.
* Crescent City ist einer der Spitznamen für New Orleans: Halbmondstadt, da das historische New Orleans, das French Quarter, in einer halbmondförmigen Krümmung des Mississippi angelegt wurde.

2 Kommentare:

  1. Interessanter Beitrag, der auch auf die Nachhaltigkeit der Ernährung abzielt, durch moralische Einflüsse gesteuert bzw. beeinflusst.

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  2. Danke. Für mich ist auch ein Abwägen aus Bio- und lokal, denn die Produkte auf dem Farmer's Market sind nicht explizit (und also wohl nicht) Bio.

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