Sonntag, 15. April 2012

Dave Eggers: Zeitoun

Dass es eine Abteilung „Local Interest“ in einer Buchhandlung gibt, ist sicherlich gar nicht so ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist aber vielleicht, wie ungewöhnlich reichlich und divers diese Regale in louisianischen Buchhandlungen bestückt sind: nicht so sehr mit Reiseführern oder –beschreibungen, sondern mit historischen und geographischen Erkundungen und jeder Menge Belletristik. Und da es in New Orleans so einige unabhängige kleine Buchhandlungen mit liebevoll sortiertem Sortiment gibt, sind es dort meist mehrere Regale. Das könnte man natürlich auf diesen liebenswerten kleinen Hang zur Selbstbeweihräucherung oder zur Selbstbestätigung, dass man etwas Besonderes ist, zurückführen („This is New Orleans!“) oder eben auch darauf, dass es nun mal eine Gegend mit einer besonders vielschichtigen und reichhaltigen Geschichte und Kultur ist.
Vor einigen Jahren kamen zu den „Local Interest“-Regalen noch die Katrina-Tische hinzu. Auf solch einem Tisch habe ich es 2009 das erste Mal gesehen: Zeitoun von Dave Eggers. Und habe es damals wieder zurückgelegt. Das hatte einerseits damit zu tun, dass ich skeptisch war, weil der Autor keinerlei Verbindung zu New Orleans hat und während und nach Katrina schon genügend Leute Unwahres berichtet und geschrieben und sich damit profiliert haben. Außerdem war mir der Weltruhm des Autors wieder einmal entgangen. Dann machte es mich auch skeptisch, dass daran auch das Thema des ethnic profiling von Muslimen geknüpft sein sollte – als ob die Geschichte von Katrina nicht genug Horrorstoff bietet. Jetzt habe ich es also nachgeholt und die deutsche Ausgabe (übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, bei Kiepenheuer & Witsch) sowie das Original gelesen.
Mein Fazit: Es ist ein gutes und auch ein wichtiges Buch. Dave Eggers gelingt es meisterhaft aus den Perspektiven von Kathy und Abdulrahman Zeitoun eine stimmige, lesbare Geschichte zu weben, die man bald nicht mehr niederlegen möchte. Er schreibt einfühlsam und nachdenklich und versucht, seinen Protagonisten gerecht zu werden. 
Zeitoun ist ein syrischer Amerikaner, der mit seiner Frau Kathy, einer zum Islam übergetretenen Baton Rougerin, eine gut gehende Baufirma betreibt und verschiedene Mietshäuser in New Orleans besitzt. Während sich Kathy mit den vier Kindern nach Baton Rouge und später nach Arizona „evakuiert“, bleibt er in der Stadt, um bei seinen Besitztümern nach dem Rechten zu sehen. So erlebt er den Sturm selbst und auch die Überflutung. Mit seinem Kanu fährt er in der Gegend herum und füttert tagelang verschiedene zurückgelassene Hunde und rettet einige Leute aus ihren Häusern, nach ein paar Tagen zusammen mit einem seiner Mieter, in dessen Wohnung wunderbarerweise auch das Telefon noch funktioniert. Über die herumlungernden, aber nichts weiter bewerkstelligenden Truppen der National Guard ist er verärgert. Schließlich wird er zusammen mit Todd und zwei anderen Männern von diesen verhaftet und ohne Anklage monatelang festgehalten und schikaniert, zunächst in einem provisorischen, Guantanamo-ähnlichen Freiluftgefängnis auf dem Bahn- und Busbahnhof (das, wie Zeitoun ausrechnete, umgehend geplant und eingerichtet wurde) und schließlich im Hunt Correctional Center in St. Gabriel, Louisiana. Der Kontakt mit Kathy bricht ab. Von seinen Geschwistern und Cousins in Spanien und Syrien gedrängt, weiß sie nicht, was sie unternehmen kann, beginnt sich nach einiger Zeit für ein Leben ohne ihn zu rüsten. Dann erhält sie einen Anruf, dass und wo sich ihr Mann im Gefängnis befindet und sie kann schließlich seine Freilassung bewirken. 
Es gibt immer wieder Rückblenden in die Jugend und Kindheit Zeitouns in Syrien und auch ein wenig in Kathys Geschichte und ihre Konvertierung zum Islam. Am Ende findet sich eine Liste der von der Zeitoun Foundation unterstützten Projekte, einer Stiftung, der sämtliche Erlöse des Autors zugute kommen. Auf weiteren vier Seiten sind die Menschen genannt, mit denen der Autor gesprochen hat, die Artikel, Bücher und Ämter und Organisationen, die er konsultiert hat. Eine beeindruckende Arbeit, die mehrere Jahre in Anspruch nahm.
Das Buch ist letztendlich weniger reißerisch, als es zunächst angekündigt wurde. Zeitoun hat also nicht Hunderte von Menschen gerettet und wurde zum Dank dafür ins Gefängnis gesteckt. Doch er versuchte zu helfen, wo er konnte, irrte aber auch ein wenig ziellos und hilflos herum, und einmal vermied er die Begegnung mit einer offensichtlichen Horde von Plünderern. Dass seine Verhaftung und Einzelhaft auf seine muslimische Religionsangehörigkeit oder Kultur zurückzuführen ist, wird angedeutet, ist aber nicht erwiesen, denn die mit ihm verhafteten Männer, darunter zwei amerikanische Amerikaner, blieben um einiges länger in Haft als er (von 5-8 Monaten gegenüber 1 Monat für Zeitoun). Dass ihm so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, ist sicher seiner Frau Kathy zu verdanken, die sich an die Medien wandte und überhaupt recht lautstark zu sein scheint, aber auch seiner interessanten Familiengeschichte und seiner sympathischen Persönlichkeit. Möglicherweise ging es Dave Eggers auch darum, in den polarisierten Zeiten nach dem elften September 2001 zu zeigen, dass Muslime eigentlich ganz normal sind; und dieses vermutete Anliegen ist das einzige, was mich ein bisschen stört.
Bei all dem geht nämlich fast ein bisschen unter, was dieses Buch auch macht: Es macht einen richtig sauer. Es zeigt nämlich am Rande einer biografischen Geschichte, wie eine Nation einer ihrer schönsten, interessantesten, kulturellsten und bedeutendsten Städte Gewalt angetan hat und zwar immer wieder: indem sie ihr keine ordentlichen Dämme baut, auch heute noch nicht, indem sie – auch mit vielen Falschmeldungen – auf eine Weise Bericht erstattete, die die Stadt und ihre Bewohner diffamierte, degradierte und lächerlich machte, indem sie zwar keine Hilfe, aber Soldaten aus allen Teilen des Landes in die Stadt schickte, die die Dortgebliebenen bedrohten und terrorisierten. Und es ist noch nicht vorbei.
An der Übersetzung gibt es gar nicht viel zu mäkeln, denn sie liest sich gut und flüssig und erzeugt denselben erzählerischen Sog wie das Original. Ein paar Dinge sind mir doch aufgefallen: Zunächst einige unglückliche Anglizismen wie ließ sich ins Haus hinein oder Heilige ScheißeGleich mehrere Seiten hinter einander „tigert“ Kathy auf und ab, m. E. eine zu markierte und etwas komische Wortwahl für das völlige normale Wort „to pace“ (auf und ab gehen).  „Krokodile im Wasser“ liest sich in Bezug auf Louisiana eigenartig, in etwa wie „Moskitos“ in Berlin, denn eigentlich heißen sie dort Alligatoren, offenbar zoologisch eine Unterklasse der Krokodile. Eggers verwendet das Wort auch im Original, möglicherweise der Ausdrucksweise von Zeitoun, der ja aus Syrien ist, geschuldet?
Natürlich kann man aus der Ferne auch nicht wissen, dass St. Gabriel, etwa 100 Kilometer von New Orleans in Richtung Baton Rouge gelegen, auf Englisch zwar eine „town“ und offiziell sogar eine „city“, aber damit noch lange keine Stadt ist, sondern bestenfalls eine Ortschaft, die aus verstreuten Häusern entlang der River Road am Mississippi besteht (laut Wikipedia ca. 6700 Einwohner). Übrigens eine wirklich ländliche Gegend, wo ich gegenüber einer indischstämmigen Freundin auch mal ein sicher rassistisch motiviertes Schweigen und Ablehnung erlebt habe, als wir in einer Kneipe einen der, wie ich sie schon kannte, schmackhaften Po-Boys essen wollten. Natürlich bin ich danach nie wieder dort eingekehrt.
Zeitoun erschien in den USA in der nichtkommerziellen Reihe Voice of Witness (in etwa: Zeugnis ablegende Stimme) bei McSweeney’s Books, die den Opfern sozialer Ungerechtigkeit gewidmet ist. Darin sind auch weitere Zeugnisse zu Katrina erschienen sowie zu vielen anderen nationalen Themen. Dave Eggers hat die Reihe mitbegründet. Noch ein Grund mehr, Zeitoun zu lesen. 

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