Sonntag, 29. April 2012

Big Easy Justice


Dieser Tage machte man mich auf eine Serie aufmerksam, die auf dem amerikanischen Kabelsender Spike läuft: Big Easy Justice („Big Easy“ ist einer der Beinamen von New Orleans, „justice“ heißt Gerechtigkeit). Darin geht es um einen Kopfgeldjäger, der in New Orleans und Umgebung Leuten auf der Spur ist, die auf Kaution freigelassen wurden und sich dann der Gerichtsbarkeit entzogen haben. Im deutschen Fernsehen habe ich in einem schwachen Moment schon mal so eine Sendung gesehen, die allerdings auf Hawaii spielt – eine Reality TV-Sendung mit viel Action, die sich den Niederungen des menschlichen Daseins widmet.
Der Produzent von Big Easy Justice meint in der New York Times dazu: „Es ist nicht das New Orleans, das man im Kopf hat, wenn man ‚New Orleans’ hört... Es ist die dunklere Seite, die viele Leute nicht besuchen.“ Duh (Na nee): Natürlich geht niemand freiwillig in Problemviertel, warum auch?
Aber dennoch ist es sehr wohl das, was viele Amerikaner auch mit New Orleans assoziieren, denn es wird ihnen in unzähligen Filmen und Serien immer wieder vorgespielt: Armut, Rückschrittlichkeit, Rassismus, Korruption, Kriminalität und eine Unzivilisiertheit, deren feuchtfröhliche Kehrseite sie von Zeit zu Zeit genießen wollen: die Bourbon Street im French Quarter mit Stripklubs, Alkohol und scharfem Essen, und all das mit einer Prise Jazz, bitte. New Orleans, Louisiana ist für viele Amerikaner die Dritte Welt – die herablassende, falsche, skandalisierende Berichterstattung über Hurrikan Katrina hat es gezeigt.
Auf Youtube kann man einen Ausschnitt sehen (auf der Spike-Webseite heißt es, ich lebe in der falschen Region, um die Episoden zu sehen). Einige der Kommentare von Einheimischen dazu sprechen Bände: unanimous300 „Wieder einmal eine Fernsehsendung, die sich mit dem Elend und der Ungerechtigkeit, die anderen Leuten angetan wird, ein paar Dollars verdient... Haut bloß ab aus meiner Stadt. Haben wir nicht genug Sch... durchgemacht?“
blueplanet800 „Wir wollen in Ruhe gelassen werden, damit wir in Ruhe sterben können, gemeinsam mit unserer Kultur. Lasst uns in Ruhe...“
Wie wäre es denn einmal mit einer Reality TV-Sendung über die Leute, die den Snowball-Stand in Metairie betreiben, über die Bibliothekarinnen in der Stadtbibliothek, die Wärter im Audubon-Zoo, die Straßenbahnfahrer, die schwarzen Jugendlichen, die im French Quarter für ein paar Dollar Stepp tanzen oder auch meine Freundin Lil, die Französischlehrerin ist? Nicht so viele Verfolgungsjagden, nicht so viel Action, aber zur Abwechslung wirklich mal „Gerechtigkeit“ für New Orleans.

Donnerstag, 26. April 2012

Ein Jahrestag, der Camelot-Index und JazzFest

Zwei Jahre sind schon wieder vergangen, seit die BP-Ölplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko explodierte (es war am 20. April 2010). Bei der Explosion kamen elf Menschen ums Leben, doch an den Folgen starben auch unzählige Tiere und Pflanzen und die Lebensgrundlage von Fischern und vielen anderen Menschen wurde zerstört. Die Ignoranz, Inkompetenz und Gleichgültigkeit seitens der Verantwortlichen konnte man damals miterleben und sie erinnerte sehr an das Verfahren nach Hurrikan Katrina. Ständig gab es eine neue, garantiert effektive Methode, das Bohrloch zu stopfen, darunter auch der Junk-Shot, wo man es mit Müll, Golfbällen, Reifenstücken und anderen Dingen beschossen hat. Mich fragt ja keiner, aber ich hätte ihnen sagen können, dass das nicht funktioniert. Berühmt wurde auch der damalige Topmanager von British Petrol Tony Hayward für Aussagen wie: "Niemand wünscht sich mehr als ich, dass das hier eine Ende hat: Ich will mein Leben zurück." Tony Hayward hat wohl spätestens bei seinem Abgang im Oktober 2010 sein Leben zurückbekommen, anders als unzählige Menschen an der Golfküste und Flora und Fauna, die noch immer unter den Folgen leiden.
Immer wieder hört man von Ölblasen und Ölbällchen, die angeschwemmt werden und die Erosion der ohnehin fragilen Küste beschleunigen und darüber, dass die Fischer und der Tourismus einfach nicht wieder auf die Beine kommen. 
Auf Facebook sah ich heute Hinweise auf eine Protestaktion, die bereits vor einem Jahr stattfand. Die Aktivistengruppe Liberate Tate kritisiert das renommierte Tate-Kunstmuseum in London für sein Sponsoring durch BP, da sich der Konzern auf diese Weise durch Kunst eine sauberes Image verschaffen kann. Bei der Aktion wurde zum Jahrestag der Ölkatastrophe im Tate ein nackter Mann in Embryonalstellung mit Öl übergossen. Sehr beeindruckend. Mich erinnert das an die Bilder von verölten Pelikanen und an die Berichte, wie einige Vögel von Freiwilligen aufwändig gereinigt und hoffentlich gerettet wurden.
Auch eine andere Nachricht des heutigen Tages gibt zu denken: Louisiana nimmt beim Camelot Index den letzten Platz ein, der die ökonomische Vitalität, Bildung, Gesundheit, Kriminalität und Regierung der fünfzig Bundesstaaten vergleicht. Wundern tut mich das nicht, aber den Gouverneur Bobby Jindall vielleicht. Vielleicht wird es ihn auch ärgern, denn obwohl er es immer wieder verneint, munkeln manche, dass er Running mate (Mitbewerber) des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney werden könnte, und dafür würde das keinen guten Eindruck machen.
Aber gut: Morgen beginnt Jazz Fest, das New Orleans Jazz & Heritage Festival, wo man 10 Tage lang auf 12 Bühnen solche Sorgen vergessen kann. Viel Spaß!

Montag, 23. April 2012

Azaleen

Auf unserem schattigen Hinterhof blüht eine zaghafte, zartrosa Azalee. Früher, als man die Schlafzimmer noch kühl und vom Rest der Wohnung fern hielt, da hatte meine Mutter manchmal eine dort stehen, neben den Alpenveilchen. In meiner Erinnerung bekam man sie geschenkt, vielleicht zum Frauentag oder zu einem Brigadefest, mit einer hellgrünen, elastischen Kreppmanschette um den Topf, deren Rand oben schön gekräuselt war. Dann begann eine Blütenextravaganza und schnell war es mit der Azalee auch schon wieder vorbei, bis zur nächsten.
Auf dem Quadrangle (Quad), dem zentralen Platz des Campus der Louisiana State University in Baton Rouge, meiner Alma mater, blühen die rosa Azaleen im Februar-März, säumen als Hecken die Wege, verzaubern alles und lassen das Leben leicht erscheinen, schaut mal hier. Überdacht werden sie von ewigen Lebenseichen und sie lösen die Kamelien ab, die im Dezember-Januar blühen. Auch auf dem Campus der Tulane University in New Orleans blühen die Azaleen.
Hier bei uns im Park machen sie sich auch langsam bereit, wo sie wieder den Hintergrund für den Rhododendron malen werden. Endlich Frühling!

Freitag, 20. April 2012

Metaeintrag: Übers Bloggen

Am Mittwoch habe ich im Berliner Literaturhaus einen Abend der Bücherfrauen moderiert zum Thema Blogs "Global und international". Eingeladen hatte ich die Übersetzerin Katy Derbyshire, deren lehrreicher und vergnüglicher Blog lovegermanbooks (über junge deutsche Literatur und Übersetzungen) die ursprüngliche Inspiration für diesen Blog hier war. Außerdem hatte ich noch Nikola Richter und Rery Maldonaldo von Los superdemokraticos eingeladen, einem Blog, der einen "intellektuellen Fairtrade" zwischen Lateinamerikanern und Deutschen ermöglicht hat. Finanziert von der Bundeszentrale für Politische Bildung schrieben dort junge Autoren in der Ich-Form über Themen wie Globalisierung, Körper usw., ein wirklich aufregendes Projekt, das im Moment - ohne Finanzierung - etwas in der Schwebe hängt.
Diese Bloggerinnen gehören alle einer jüngeren Generation an als ich, und vielleicht liegt es daran, dass ich mit so viel Vergnügen einen Teil von Los Superdemokraticos als gutes altes Buch gelesen habe, das ich hiermit allen ans Herz legen möchte.
Vor der Veranstaltung hatte ich mir ein paar "philosophische" Gedanken gemacht: dass ein Blog eine Art Flaschenpost ist (was man mir aus der Einladung lieber rausgestrichen hat), oder vielmehr Millionen Flaschenposten, wenn man so will, von denen man eigentlich nie weiß, wer sie findet. Oder wen sie finden. Auch den drei Bloggerinnen geht das so.
Mir gefällt es, wie die Superdemokraticos andere ihren Blog schreiben lassen, so dass eine tolle Vielfalt und Interaktion entsteht. Bei lovegermanbooks gibt es manchmal Interviews, aber bei Gasteinträgen geht es Katy meist wie mir, dass man die Leute dann irgendwie doch nicht dazu bewegen kann, etwas zu schreiben.
Hier nun mein Ruf hinaus in den Äther: 
Geschätzte Leser und Leserinnen! Wer seid Ihr? Und: Schreibt mir doch mal ein paar Zeilen darüber, was New Orleans für Euch ist?
Ich freue mich auf Eure Post!

Donnerstag, 19. April 2012

Kate Chopin: Ein zweites Erwachen

Gerade habe ich die Diane-Rehm-Show auf NPR gehört, die hier in Berlin einen Tag später ausgestrahlt wird. Im „Reader's Review“ (Leserkritik) für April ging es um Kate Chopins Roman The Awakening, dessen deutsche Ausgabe Das Erwachen ich hier kürzlich besprochen habe (mit Glossar).
Es war eine Diskussionssendung mit drei Gästen und Anruferkommentaren. Einige hielten die Hauptfigur für egoistisch und deshalb unsympathisch oder auch verwöhnt, was ich auch nachvollziehen kann, aber darauf zurückführe, dass man, wenn man vielleicht selbst sehr diszipliniert ist und nie ausbricht, den anderen ihren Egoismus auch nicht gönnen kann. Überrascht war ich, dass manche Edna Pontellier als depressiv bzw. manisch-depressiv einordneten und sie damit, finde ich, abtun oder in ihrer Aussagekraft entwerten. Eine andere Diskutantin fand die kreolisch-französische Kultur als korrupt dargestellt. Ein Anrufer, Hausmann und zu Hause erziehender Vater, konnte sich mit der Isolation der Heldin identifizieren und fühlt sich nicht nur zu Hause isoliert, sondern auch als einziger Mann unter Müttern. („Ein zweites Erwachen“ fände hier statt, meinte jemand.)
So habe ich beim Geranieneinpflanzen das Buch noch einmal fast eine Stunde lang aus verschiedenen Perspektiven Revue passieren lassen. Und erlebt, wie Das Erwachen auch heute noch frisch ist, wie es die Gemüter immer noch berührt und bewegt. Anhören.
Im Central West End von St. Louis, einer kleinen alternativen Einkaufs- und Kneipengegend unweit der Washington University, ist jetzt übrigens eine Büste für die Autorin Kate Chopin eingeweiht worden. Kate Chopin stammte aus St. Louis und nach ihren Jahren in Louisiana, die ihr den Stoff für ihr Schreiben lieferten, lebte sie wieder dort, wurde Schriftstellerin und führte einen Salon. Ihre Büste gesellt sich jetzt zu denen von T.S. Eliot und Tennessee Williams, die auch u.a. in St. Louis aufwuchsen.

Sonntag, 15. April 2012

Dave Eggers: Zeitoun

Dass es eine Abteilung „Local Interest“ in einer Buchhandlung gibt, ist sicherlich gar nicht so ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist aber vielleicht, wie ungewöhnlich reichlich und divers diese Regale in louisianischen Buchhandlungen bestückt sind: nicht so sehr mit Reiseführern oder –beschreibungen, sondern mit historischen und geographischen Erkundungen und jeder Menge Belletristik. Und da es in New Orleans so einige unabhängige kleine Buchhandlungen mit liebevoll sortiertem Sortiment gibt, sind es dort meist mehrere Regale. Das könnte man natürlich auf diesen liebenswerten kleinen Hang zur Selbstbeweihräucherung oder zur Selbstbestätigung, dass man etwas Besonderes ist, zurückführen („This is New Orleans!“) oder eben auch darauf, dass es nun mal eine Gegend mit einer besonders vielschichtigen und reichhaltigen Geschichte und Kultur ist.
Vor einigen Jahren kamen zu den „Local Interest“-Regalen noch die Katrina-Tische hinzu. Auf solch einem Tisch habe ich es 2009 das erste Mal gesehen: Zeitoun von Dave Eggers. Und habe es damals wieder zurückgelegt. Das hatte einerseits damit zu tun, dass ich skeptisch war, weil der Autor keinerlei Verbindung zu New Orleans hat und während und nach Katrina schon genügend Leute Unwahres berichtet und geschrieben und sich damit profiliert haben. Außerdem war mir der Weltruhm des Autors wieder einmal entgangen. Dann machte es mich auch skeptisch, dass daran auch das Thema des ethnic profiling von Muslimen geknüpft sein sollte – als ob die Geschichte von Katrina nicht genug Horrorstoff bietet. Jetzt habe ich es also nachgeholt und die deutsche Ausgabe (übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, bei Kiepenheuer & Witsch) sowie das Original gelesen.
Mein Fazit: Es ist ein gutes und auch ein wichtiges Buch. Dave Eggers gelingt es meisterhaft aus den Perspektiven von Kathy und Abdulrahman Zeitoun eine stimmige, lesbare Geschichte zu weben, die man bald nicht mehr niederlegen möchte. Er schreibt einfühlsam und nachdenklich und versucht, seinen Protagonisten gerecht zu werden. 
Zeitoun ist ein syrischer Amerikaner, der mit seiner Frau Kathy, einer zum Islam übergetretenen Baton Rougerin, eine gut gehende Baufirma betreibt und verschiedene Mietshäuser in New Orleans besitzt. Während sich Kathy mit den vier Kindern nach Baton Rouge und später nach Arizona „evakuiert“, bleibt er in der Stadt, um bei seinen Besitztümern nach dem Rechten zu sehen. So erlebt er den Sturm selbst und auch die Überflutung. Mit seinem Kanu fährt er in der Gegend herum und füttert tagelang verschiedene zurückgelassene Hunde und rettet einige Leute aus ihren Häusern, nach ein paar Tagen zusammen mit einem seiner Mieter, in dessen Wohnung wunderbarerweise auch das Telefon noch funktioniert. Über die herumlungernden, aber nichts weiter bewerkstelligenden Truppen der National Guard ist er verärgert. Schließlich wird er zusammen mit Todd und zwei anderen Männern von diesen verhaftet und ohne Anklage monatelang festgehalten und schikaniert, zunächst in einem provisorischen, Guantanamo-ähnlichen Freiluftgefängnis auf dem Bahn- und Busbahnhof (das, wie Zeitoun ausrechnete, umgehend geplant und eingerichtet wurde) und schließlich im Hunt Correctional Center in St. Gabriel, Louisiana. Der Kontakt mit Kathy bricht ab. Von seinen Geschwistern und Cousins in Spanien und Syrien gedrängt, weiß sie nicht, was sie unternehmen kann, beginnt sich nach einiger Zeit für ein Leben ohne ihn zu rüsten. Dann erhält sie einen Anruf, dass und wo sich ihr Mann im Gefängnis befindet und sie kann schließlich seine Freilassung bewirken. 
Es gibt immer wieder Rückblenden in die Jugend und Kindheit Zeitouns in Syrien und auch ein wenig in Kathys Geschichte und ihre Konvertierung zum Islam. Am Ende findet sich eine Liste der von der Zeitoun Foundation unterstützten Projekte, einer Stiftung, der sämtliche Erlöse des Autors zugute kommen. Auf weiteren vier Seiten sind die Menschen genannt, mit denen der Autor gesprochen hat, die Artikel, Bücher und Ämter und Organisationen, die er konsultiert hat. Eine beeindruckende Arbeit, die mehrere Jahre in Anspruch nahm.
Das Buch ist letztendlich weniger reißerisch, als es zunächst angekündigt wurde. Zeitoun hat also nicht Hunderte von Menschen gerettet und wurde zum Dank dafür ins Gefängnis gesteckt. Doch er versuchte zu helfen, wo er konnte, irrte aber auch ein wenig ziellos und hilflos herum, und einmal vermied er die Begegnung mit einer offensichtlichen Horde von Plünderern. Dass seine Verhaftung und Einzelhaft auf seine muslimische Religionsangehörigkeit oder Kultur zurückzuführen ist, wird angedeutet, ist aber nicht erwiesen, denn die mit ihm verhafteten Männer, darunter zwei amerikanische Amerikaner, blieben um einiges länger in Haft als er (von 5-8 Monaten gegenüber 1 Monat für Zeitoun). Dass ihm so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, ist sicher seiner Frau Kathy zu verdanken, die sich an die Medien wandte und überhaupt recht lautstark zu sein scheint, aber auch seiner interessanten Familiengeschichte und seiner sympathischen Persönlichkeit. Möglicherweise ging es Dave Eggers auch darum, in den polarisierten Zeiten nach dem elften September 2001 zu zeigen, dass Muslime eigentlich ganz normal sind; und dieses vermutete Anliegen ist das einzige, was mich ein bisschen stört.
Bei all dem geht nämlich fast ein bisschen unter, was dieses Buch auch macht: Es macht einen richtig sauer. Es zeigt nämlich am Rande einer biografischen Geschichte, wie eine Nation einer ihrer schönsten, interessantesten, kulturellsten und bedeutendsten Städte Gewalt angetan hat und zwar immer wieder: indem sie ihr keine ordentlichen Dämme baut, auch heute noch nicht, indem sie – auch mit vielen Falschmeldungen – auf eine Weise Bericht erstattete, die die Stadt und ihre Bewohner diffamierte, degradierte und lächerlich machte, indem sie zwar keine Hilfe, aber Soldaten aus allen Teilen des Landes in die Stadt schickte, die die Dortgebliebenen bedrohten und terrorisierten. Und es ist noch nicht vorbei.
An der Übersetzung gibt es gar nicht viel zu mäkeln, denn sie liest sich gut und flüssig und erzeugt denselben erzählerischen Sog wie das Original. Ein paar Dinge sind mir doch aufgefallen: Zunächst einige unglückliche Anglizismen wie ließ sich ins Haus hinein oder Heilige ScheißeGleich mehrere Seiten hinter einander „tigert“ Kathy auf und ab, m. E. eine zu markierte und etwas komische Wortwahl für das völlige normale Wort „to pace“ (auf und ab gehen).  „Krokodile im Wasser“ liest sich in Bezug auf Louisiana eigenartig, in etwa wie „Moskitos“ in Berlin, denn eigentlich heißen sie dort Alligatoren, offenbar zoologisch eine Unterklasse der Krokodile. Eggers verwendet das Wort auch im Original, möglicherweise der Ausdrucksweise von Zeitoun, der ja aus Syrien ist, geschuldet?
Natürlich kann man aus der Ferne auch nicht wissen, dass St. Gabriel, etwa 100 Kilometer von New Orleans in Richtung Baton Rouge gelegen, auf Englisch zwar eine „town“ und offiziell sogar eine „city“, aber damit noch lange keine Stadt ist, sondern bestenfalls eine Ortschaft, die aus verstreuten Häusern entlang der River Road am Mississippi besteht (laut Wikipedia ca. 6700 Einwohner). Übrigens eine wirklich ländliche Gegend, wo ich gegenüber einer indischstämmigen Freundin auch mal ein sicher rassistisch motiviertes Schweigen und Ablehnung erlebt habe, als wir in einer Kneipe einen der, wie ich sie schon kannte, schmackhaften Po-Boys essen wollten. Natürlich bin ich danach nie wieder dort eingekehrt.
Zeitoun erschien in den USA in der nichtkommerziellen Reihe Voice of Witness (in etwa: Zeugnis ablegende Stimme) bei McSweeney’s Books, die den Opfern sozialer Ungerechtigkeit gewidmet ist. Darin sind auch weitere Zeugnisse zu Katrina erschienen sowie zu vielen anderen nationalen Themen. Dave Eggers hat die Reihe mitbegründet. Noch ein Grund mehr, Zeitoun zu lesen. 

Sonntag, 8. April 2012

Osterspaziergang

Heute morgen beim Spaziergang durch den Park ging es mir durch den Kopf: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche...“, und ich dachte mir, aha, zu Goethens Zeiten waren also die Flüsse im Winter zugefroren, was mit unserer Spree hier zwar in diesen Jahren wieder so ist, aber nicht immer so war.
So erlaubt uns die Literatur Rückschlüsse auf die Natur, und so lese ich in der Literatur ein bestimmtes Bild von der Natur mit. Vor allem Louisiana, New Orleans ist für mich ein Ort, wo ich die Natur und die Umwelt immer mitdenke und die für mich viel von ihrem Zauber ausmachen.
Das wurde mir auch insbesondere klar, als ich an dieser Stelle vor kurzem über Kate Chopins Das Erwachen schrieb. Denn während mir beim Lesen intensiv die Esplanade Avenue in New Orleans vor Augen stand, so wie heute, nur ohne Autos und mit langberockten und behandschuhten Damen, die unter Rüschensonnenschirmen über die Bürgersteige schweben, wollte mein Bild von Grand Isle absolut nicht mit dem von der Autorin beschriebenen übereinstimmen. 
Kate Chopins Insel ist nämlich eine luftige, paradiesische Oase mit edlen weißen Sommerhäuschen unter schattigen Bäumen. Die Grand Isle, die ich kenne, hat nur vereinzelt Bäume, die im Sand wachsen, ist eher einfach und provisorisch bebaut und scheint sich in den Elementen nur noch mit letzter Kraft zu behaupten. Wie überall in Louisiana, wo in den malerischen Bayous alte Kähne vor sich hinrosten und am Mississippiufer ganze Anlagen verwahrlosen, so wirkt auch Grand Isle, von den Eigenheimen und dem naturbelassenen State Park abgesehen, nicht besonders sorgfältig behandelt. Und das war lange vor der BP-Ölkatastrophe.
Eines der größten Probleme Louisianas ist, dass der Bundesstaat jährlich massiv an Boden verliert, auch weil die Deichanlagen des Mississippi dazu führen, dass der Schlamm des „Muddy River“ weit im Golf von Mexiko abgesetzt wird und nicht vor der Küste, wo er gebraucht wird. Die Gewinnung von Öl und Gas, das Anlegen von Erkundungskanälen, durch die Salzwasser in die Marschen eindringt, und die Verbreitung der Nutria führen dazu, dass jährlich ca. 122 km2 Feuchtgebiete verloren gehen. Wie sehr die Insel sich verändert hat, habe ich selbst gesehen: Allein die Hurrikane Katrina und Rita 2005 haben ca. 560 Quadratkilometer Marschland in offenes Wasser verwandelt. Der Name der benachbarten Halbinsel Chênière Caminada deutet auf ein Eichenwäldchen hin, heute eine Marschlandschaft mit sporadischen Bäumen.
Dabei ist die Eiche, genauer gesagt die Lebenseiche (live oak), die auf Deutsch wohl auch Virginia-Eiche heißt, für mich der typischste und schönste Baum Louisianas. Es ist der Baum, der die berühmte Oak Alley Plantation so verwunschen aussehen lässt. Mit seinen knorrigen, starken, weit auf den Boden reichenden Ästen, die mit Efeu und Spanischmoos bewachsen sind, ist er exotisch, bizarr und schön und Heimstatt für unzählige Vögel. Aber vor allem ist er auch unverwüstlich und standhaft und uralt, hält Stürmen und Unwetter stand, eine beständige Präsenz in einer unsteten und vergänglichen Landschaft.

Donnerstag, 5. April 2012

Auch in Zürich...

...liest man über New Orleans. Heute findet sich in der Neuen Zürcher Zeitung eine Rezension zu John Kennedy Tooles Die Verschwörung der Idioten.
Anfang der Woche gab es ein Interview mit David Simon, der gerade in New Orleans an der Fortsetzung von Treme dreht. Er ist auch der Autor von Homicide und The Corner (auf Deutsch im Antje-Kunstmann-Verlag).

Mittwoch, 4. April 2012

Neville Brothers, Jazz Fest und Radio

Die NPR-Sendung Beale Street Caravan aus Memphis wird vom Touristenbüro der Stadt Memphis (Convention and Visitor’s Center) gesponsort und auch von der Tennessee Arts Commission und Arts Memphis. Das wundert mich eigentlich ein bisschen, denn vor allem macht die Sendung Werbung für das Jazz Fest, von dem immer wieder Live-Mitschnitte die ganze Sendung bestreiten. Das New Orleans Jazz & Heritage Festival, wie es offiziell heißt, findet aber nun mal in New Orleans statt, dieses Jahr vom 27. April bis 6. Mai. Auch dieses Jahr wird es garantiert wieder sehr voll und sehr heiß: Die Menschen (auch viele Touristen) werden sich unter den wenigen vereinzelten Bäumen versammeln, louisianisches Essen essen und Bier trinken, und sie werden auf verschiedenen Bühnen und in Zelten am laufenden Band tolle Musik hören und dazu tanzen. Dieses Jahr auch dabei: Bruce Springsteen und die E Street Band und viele Musiker aus Louisiana.
Vorletzte Woche ging es im Beale Street Caravan um die Neville Brothers, die sich für die Jazz Feste 2008 und 2011 wieder zusammengefunden hatten. Es ist eine Rhythm & Blues-Band, bestehend aus den vier Brüdern Art, Charles, Aaron und Cyril Neville, die 1989 auch hierzulande mit „Yellow Moon“ einen Hit hatte. Die Nevilles sind neben den Marsalis die wohl bekannteste Musikerdynastie aus New Orleans. Auf ihrer Webseite heißt es „New Orleans’ First Family of Funk“; dort wird man auch mit „Yellow Moon“ begrüßt. Sie haben einzeln, zusammen oder als The Meters immer wieder Hits produziert. Eine Tochter, Charmaine Neville, erregte mit einem anklagenden Interview, das sie wenige Tage nach Katrina (am 5. September 2005) gab, nationales Aufsehen. 
Ihr Onkel, Cyril Neville, der seitdem in Austin, Texas, lebt, schrieb in einem bewegenden Artikel darüber, „warum er nicht zurück nach New Orleans“ gehe. Das war im Dezember 2005. Im August 2007, nach seinem Konzert (mit Gaynielle Neville) im Garbáty in Berlin-Pankow, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und fragte ihn, ob er denn wirklich nicht zurückgehen wolle. Darauf meinte er: „Nein, da gibt es nichts für mich.“ In dem Artikel beklagt er die mangelnde Unterstützung der Stadt für ihre Musiker, von denen die wenigsten in New Orleans wirklich ihr Geld verdienen könnten. Ohne wirtschaftliche Gleichstellung, Eigentum und Steuersenkungen, wie sie das French Quarter bekomme, sehe er keine Zukunft für Afroamerikaner in der Stadt. Die betroffenen Viertel sollten eigene Tourismuskommissionen haben und eigene Hotels und Restaurants errichten können. Cyril Neville lebt immer noch in Austin, aber singen und musizieren tut er über New Orleans. Am 27. Oktober 2012 zusammen mit Devon Allman auch im Quasimodo in Berlin.
Dass New Orleans nicht gut für seine Musiker sorgt, sah man auch daran, dass Fats Domino, der große R & B-Musiker der 60er und 70er Jahre, zunächst in Katrina vermisst war, bevor er mehrere Tage später mit dem Hubschrauber evakuiert wurde. Der Produzent und Komponist Allen Toussaint verlor in dem Hurrikan sein Haus samt Steinway-Flügel und Instrumenten sowie seiner Bibliothek. 
Hier habe ich eine ganz hoffnungsvolle Sendung entdeckt, die vor zwei Wochen im Bayrischen Rundfunk lief und die man hier hören kann: „New Orleans – Schwarz ist das Herz“. Ein wirklich interessanter Lagebericht mit wirklich groovender Musik. Kudos dem Journalisten Jonathan Fischer.